Sticky Business
(ungekürzte Originalversion)
für das Stickerheft des Atelierrundgangs von 2a Studios, Hangarmaracuya und anderen Off-Spaces während des Zinnober Hannover 2022
21.07.2022
Sticker sammeln ist eine klebrige, absurde Sache. Es ist die suchtartige Anhäufung von Ikonen, die zwar nicht angebetet, aber ersehnt und nach ihrer Manifestation immer wieder mit zartem Stolz und Erfolgsgefühl betrachtet werden. Darin liegt vielleicht eine Ähnlichkeit zum Religiösen. Sie werden gehandelt, getauscht, gezeigt, eingeklebt und bewertet. Sie sind also zudem nicht nur Ware, sondern auch Währung. Und manche Sticker sind – aufgrund ihrer künstlich produzierten Seltenheit und scheinbaren Wertigkeit – geradezu von mystischer Gestalt. Das Glitzer-Glurak damals, das habe ich zweimal bei anderen gesehen, ganz kurz. Das war wie ein Geist auf dessen Erscheinen ich mit jeder neuen Stickerpackung eine Wette abschloss. Eine Jagd, begrenzt allein durch die familiäre relative Armut und die anderen Interessen, die mit allem Pokémon-esken um das knappe Taschengeld buhlten.
Ich jagte ja nicht, um zu fangen, ich jagte eigentlich nur um zu jagen. Jeder Fang warf mich sofort in die Jagd zurück, denn so eine Packung ist in Sekunden aufgerissen, der Sticker klebt sofort. Schnell weiter, Glitzersticker here I come. Wenn das Album voll ist und die Jagd vorbei, ändert sich für einen Moment alles. Es ist jetzt ein – naja irgendwann vielleicht mal – Wertgegenstand, tot und abgeschlossen. Da passiert eigentlich nix mehr, leider. Ins Regal damit, auf den Müll, vielleicht nochmal verticken. Das nächste Heft und ein paar Stickerpacks krieg ich wieder raus, wenn ich einen Trottel finde, der mir ein volles Pokémon-Stickerheft abkauft.
Natürlich ist das Sammeln von Stickern in Alben auch etwas, das wahnsinnig profitabel ist. Nicht für die Sammelnden, sondern für Konzerne wie Panini. Da wird ein irrsinniger Müll produziert um nicht bloß Eintrittskarten ins Fußballstadion, sondern das ganze »Lebensgefühl« zu verkaufen. Weil die, die betrügen, wissen, dass wir gerne gut betrogen werden. Noch eine Packung, dann hör ich auf, versprochen.
Ich glaube, dass diese Stickersammelei ein nicht unwesentlicher Schubs in Richtung meiner Arbeit als Grafikdesigner war. Geile Oberflächen, geile Formen, geile Ikonen. Die heilige Jungfrau Maria und Lars Ricken und Glurak in Glitzer. Hätte es ein Wu-Tang Clan Stickeralbum gegeben, ich hätte umgestellt. Goldener GZA als Hologramm.
Man kann die Stickerjagd natürlich auch auf bisher unbeklebtes Terrain ausweiten. So wie dieses Heft es macht. Es ist das beste aus drei Welten, vereint in einem Spiel: Stickeralben, Schnitzeljagd und Käse. Das beste aus der Welt der Stickeralben sind die Sticker, das beste aus der Welt der Schnitzeljagd ist die Jagd, das beste aus der Käse-Welt ist – na klar – Käse. Das kann nur funktionieren. Jede sich selbst mit Stickern repräsentierende Station ist wie ein Kiosk, an dem man mit zittrigen Fingern die frischen Aufkleberstapel durchgeht. Mit jeder verklebten Ikone rückt das Paradies näher: ein blassgoldenes, milchiges Stück käsiger Erfüllung. Da käme jedes Feilbieten von Käsehappen an den Stationen während der Jagd einer vorzeitigen Lustdeflation gleich. Cracker mit Aufstrich müssen vorerst reichen. Das schöne am Begehren ist doch das Begehren selbst, seine nur teilweise Erfüllung. Die volle Erfüllung des Begehrens ist meistens zugleich seine Abschaffung. Schade, aber es hat gut geschmeckt.
Ich kann mich nicht erinnern, dass es für ein vollständiges Stickeralbum von Panini jemals irgendwelche Goodies gab (gab es bestimmt). So als Belohnung für den Fleiß und den anteilig produzierten shareholder value. Das Sammeln war ja schon geil genug. Bei so einer feinen Mischung aus Erfolg und Enttäuschung wird der Unterschied zwischen beiden aufgelöst. Towards a theory of jouissance in the field of collectible stickers – naja egal. Heute reicht das desire gerade noch für ein paar Sticker auf dem Laptop, die virtues wollen schließlich gesignalled werden und so ein nacktes Apple Logo ist doch scheiße.
Diese besondere Stickerjagd durch Hannover ist natürlich ein Trick. Ein guter Betrug. Der beste Betrug! Man lernt auf der Jagd nicht nur Künstler:innen und Orte der Kulturproduktion kennen, es gibt auch ein höheres Ziel. Am Ende wartet nämlich nicht nur ganz sicher das nächste Stickeralbum, es gibt tatsächlich sogar ein Goodie. Wer das Heft voll hat steigt in den Rang »Cheesy Rider« auf und kann sich – no shit – ein Stück Käse beim Käsemann abholen. There is a world to win. Der ewige Kreislauf aus Erfolg und Enttäuschung in der kleinen Welt des Stickermasochismus wird gebrochen. Es gibt eine Tür am Ende des Flurs, eine Tür, die ins Reich des Käses führt. Den kann man schlecht sammeln, dafür sehr gut genießen, vorausgesetzt, man isst überhaupt Käse. Käse essen ist auch weniger Arbeit als Sticker sammeln, wenngleich auch im Käse-Feld Erfolg und Enttäuschung nah beieinander liegen können und das Aufschneiden manchmal zum sticky business wird.
Gibt es eigentlich Käse-Ikonen? Und wenn ja, wo ist das Stickeralbum? Das wäre geruchsärmer, hygienischer und ginge auch easy vegan. Ist dann halt nicht the real thing, aber es gibt zum Beispiel eine Käsesorte, deren Schmiere an der Schale ziemlich exakt so riecht wie der saure Weißwein-Mundgeruch übersättigter Ex-Werber, die einen in Hamburg-Eppendorfer Weinbars volllabern. Das hat mir das eine Mal für immer gereicht. Derselbe Käse, gut fotografiert, gedruckt auf Glitzerhologrammfolie, zum Jagen in 7er-Packs am Kiosk erhältlich? Lass mich kurz Geld abheben. Danach ist bestimmt immernoch was für den echten, guten Käse übrig.
Ich habe auch ein paar Sticker und die Vereinsdoppelseite der Niki Residency im Cheesy-Rider-Heft gestaltet.